Gavin Ortlund: Wofür es sich zu kämpfen lohnt und wofür nicht
Gavin Ortlund: Wofür es sich zu kämpfen lohnt und wofür nicht. Ein Plädoyer für theologische Triage, Bad Oeynhausen: Verbum Medien, 2025, geb., 212 S., € 18,90, ISBN 978-3-98665-265-4
Sind alle Aussagen, die sich in der Bibel finden, gleich wichtig oder gibt es Abstufungen? Soll man beispielsweise die Bitte des Paulus, dass Timotheus ihm seinen Mantel aus Troas mitbringen soll (2Tim 4,13) als gleichgewichtig ansehen wie die Aussage, dass Christus auferweckt worden ist am dritten Tage nach der Schrift (1Kor 15,4)? Jeder Bibelleser setzt sich – vielleicht oft unbewusst – mit Fragen über Gewichtungen biblischer Texte und Themen auseinander.
Wenn man Unterschiede in der Wichtigkeit macht, was sind dann die Kriterien für die Abstufungen? Das ist das Hauptthema vorliegender Übersetzung von Finding the Right Hills to Die On: The Case for Theological Triage, Wheaton, IL: Crossway, 2020. Der Begriff „Triage“ (im Untertitel) ist aus der Medizin bekannt und bezeichnet die Entscheidung, welche Verletzten oder Erkrankten am vordringlichsten behandelt werden müssen, wenn nicht alle gleichzeitig versorgt werden können. In diesem Sinne plädiert Gavin Ortlund für eine theologische Triage: Für Lehren und Aussagen der Heiligen Schrift gibt es eine unterschiedliche Wichtigkeit und Dringlichkeit. Das gelte laut Ortlund, weil Menschen auf ewig verloren gehen und wegen verschiedener Nöte und Anfechtungen, denen die Gemeinde Gottes ausgesetzt ist (14f) – man müsse daher Prioritäten setzen. Außerdem wirke die Triage der theologischen Zersplitterung entgegen und verhelfe zur Einheit der Christen (Kapitel 1).
Dass es unterschiedliche Wichtigkeiten gibt, wird in der Heiligen Schrift selbst gelegentlich zum Ausdruck gebracht, wenn Paulus z. B. in 1Kor 15,3 vom „Wichtigsten“ spricht oder in Hebr 5,12–14 zwischen „Milch“ und „fester Nahrung“ unterschieden wird (28f). Außerdem warnt Paulus mehrfach vor unnötigem Streit und törichten Fragen (41ff).
Ortlund unterscheidet vier Kategorien: Erstrangige Lehren sind für das Evangelium wesentlich. Zweitrangige Lehren sind für die Gesundheit und Praxis der Gemeinde nötig und oft der Anlass für die Bildung verschiedener Denominationen und christlicher Werke. Drittrangige Lehren sind für die Theologie zwar wichtig, aber nicht wesentlich für das Evangelium und die Gemeinde; sie rechtfertigen daher keine Trennungen unter Christen. Viertrangige Lehren sind für Evangelisation und Zusammenarbeit unter Christen generell nicht wichtig (16, 52f). Natürlich ist die Zuordnung in einzelnen Fällen nicht immer eindeutig, was besonders bei der zweiten Kategorie zutrifft (118).
In Kapitel 2 befasst sich Ortlund mit einem Extrem im Umgang mit unterschiedlichen Wichtigkeiten. Er spricht von der Gefahr des theologischen Minimalismus, wonach es z. B. ausreiche, einfach nur Jesus nachzufolgen. Bei solchen einfachen Formulierungen müsste konkretisiert werden, was genau gemeint ist, sodass die Auseinandersetzung bezüglich Gewichtungen faktisch gar nicht vermeidbar ist.
Der Autor erzählt seine persönliche Geschichte mit zweit- und drittrangigen Lehren in Kapitel 3. Darin zeichnet er seine biografische Gemeindegeschichte nach und erläutert, wie sich sein Verständnis von der Taufe, von der Endzeit und von den Schöpfungstagen verändert hat.
Das Kernstück seines Buches ist die Anwendung der theologischen Triage auf einige Beispiele (Teil 2 des Buches, Kapitel 4–6). Als Beispiele für erstrangige Lehren behandelt er die Jungfrauengeburt und die Rechtfertigungslehre. Erstrangige Lehren seien zwar als solche nicht das ganze Evangelium, berühren aber das ganze Evangelium (vgl. 108). Ortlund betont, dass man für erstrangige Lehren kämpfen müsse, weil sie eine „Grenze zwischen dem Evangelium und einer rivalisierenden Ideologie, Religion oder Weltanschauung markieren“ und weil sie „einen wesentlichen Punkt des Evangeliums darstellen“ (88). Mit ihnen werde das Evangelium verkündet oder gegen Angriffe verteidigt – und das haben auch die Apostel getan. Ortlund benennt eine Reihe von tauglichen und untauglichen Kriterien für Erstrangigkeit (89ff). Taugliche Kriterien sind z. B.: Relevanz für den Charakter Gottes und das Wesen des Evangeliums, biblische Klarheit, Häufigkeit und Gewicht in der Bibel oder Auswirkungen auf andere biblische Lehren.
In Kapitel 5 über zweitrangige Lehren schlägt Ortlund eine Haltung der Weisheit und Ausgewogenheit vor. Diese Lehren kommen nicht im Apostolischen Glaubensbekenntnis vor und ihre Ablehnung würde das Evangelium nicht fundamental entstellen (115f). Als Beispiele behandelt der Autor das Verständnis von Taufe und Geistesgaben sowie die Rolle von Frauen in der Gemeinde.
Drittrangige Lehren thematisiert der Autor in Kapitel 6. Es sind solche Lehren, um derentwillen sich Gemeinden nicht spalten sollten. Als Beispiele diskutiert Ortlund das Tausendjährige Reich und die Schöpfungstage einschließlich der Frage des Alters der Schöpfung (gemeint sind im Kontext des Buches konventionelle Vorstellungen wie Milliarden Jahre versus sehr viel kürzere Zeiträume). Er erwähnt zu Beginn des Buches, dass er sich mit der Schöpfung intensiv auseinandergesetzt habe (20). Ortlund erklärt, dass dieses Thema für die Ortsgemeinde, für die Evangelisation und das Zeugnis der Christen in der Welt „viel weniger relevant als viele andere Lehren“ (168).
Wie begründet der Autor die Drittrangigkeit des Verständnisses der Schöpfungstage und des Alters der Erde und des Menschen? Es fällt auf, dass kaum exegetisch oder systematisch-theologisch, sondern vor allem kirchengeschichtlich argumentiert wird. Ortlund weist z. B. darauf hin, dass viele konservative Protestanten und Kritiker des theologischen Liberalismus keine Schwierigkeiten damit hatten, Genesis 1 mit einer „älteren Erde“ und mit dem Tod der Tiere vor dem Auftreten des Menschen in Einklang zu bringen. Er referiert aber keines ihrer Argumente. Der bekannte Prediger Spurgeon wird mit der Aussage zitiert, dass die Erde verschiedene Stadien der Existenz mit verschiedenen Arten von Lebewesen durchlaufen habe, die alle von Gott geschaffen wurden. Es wird jedoch nicht erläutert, wie er das genau gemeint hat. Die Tatsache, dass Augustinus mit Genesis 1 gerungen hat, ist zudem kein gutes Argument dafür, dass die Textauslegung problematisch sei. Wenn schließlich die Darstellung von Gottes Schöpfungswerk in sieben Tagen als eine Anpassung an das menschliche Verständnis verstanden wird (so Augustinus) oder wenn gesagt wird, dass Genesis 1–11 bildhaft zu verstehen sei (so Thomas von Aquin), stellt sich automatisch die Frage, was denn wirklich geschehen ist, als Gott die Schöpfungswerke hervorgebracht hat und wie die weitere Geschichte der Schöpfung tatsächlich verlaufen ist.
Das Verständnis der Abläufe während der Schöpfung und damit der Schöpfungstage sowie Fragen des Schöpfungsalters stehen jedoch nicht unverbunden mit anderen Aspekten der biblischen Lehre gleichsam im luftleeren Raum, sondern sind mit heilsgeschichtlichen Tatsachen verknüpft. Ortlund selbst schreibt in einem allgemeinen Zusammenhang: „Wenn kleinere und größere Wahrheiten in einem Verhältnis zueinander stehen, dann ist es gefährlich, anzunehmen, dass eine Lehre, die nicht zum Evangelium gehört, für das Evangelium ohne Bedeutung ist“ (65). Und: „Manche Lehren betreffen das Evangelium. Es gibt kaum Lehren, die hermetisch vom Rest des christlichen Glaubens abgeriegelt werden können“ (66; Hervorhebung im Original). Es könne notwendig sein, Lehren zu verteidigen, weil sie „so eng mit dem Evangelium im Beziehung stehen, dass das Evangelium selbst Schaden nimmt, wenn sie geleugnet werden“ (104) – solche Lehren stuft Ortlund in die erste Kategorie ein.
Insgesamt bietet das Buch viele Anregungen, über die Wichtigkeit von biblischen Lehren nachzudenken und sich ein eigenes Bild zu machen. Man merkt, dass die Frage nach Gewichtungen nicht abgetan werden kann und oft auch nicht einfach zu beantworten ist. Der Autor möchte seine Leser nicht für seine persönliche Sicht in Einzelfragen gewinnen, sondern zu eigenem Nachdenken anregen. Das ist ihm gelungen und in dieser Hinsicht ist die Lektüre gewinnbringend.
Ortlund ist abschließend ein Appell an christliche Demut sehr wichtig. „Die Uneinigkeit, die es in Bezug auf eine Lehre gibt, hat nicht nur mit ihrem Inhalt zu tun, sondern auch mit der Haltung, mit der sie vertreten wird“ (179f). Aufmerksames Zuhören, die Bereitschaft zu lernen und die Offenheit, neue Informationen zu erhalten und ggf. unsere Sichtweise anzupassen, sollte das Austragen von theologischen Meinungsverschiedenheiten prägen (181).
Dr. Reinhard Junker ist ehrenamtlicher Mitarbeiter der SG Wort und Wissen e. V., Baiersbronn