Volker Halfmann: Der liebende Gott und sein heiliger Zorn
Volker Halfmann: Der liebende Gott und sein heiliger Zorn, Holzgerlingen: SCM R. Brockhaus, 2023, 370 S., Hb., € 25,–, ISBN 978-3-417-24179-2
Kann man heute noch vom Zorn Gottes sprechen? Und wie lässt sich dieser mit dem Wesen eines liebenden Gottes vereinbaren? Pastor Volker Halfmann kennt die Spannung aus eigener Erfahrung: Etwa 40 Jahre litt er unter einem krankhaft angstmachendem Gottesbild. Dennoch warnt er davor, die Botschaft vom Zorn Gottes aus Rücksicht auf traumatisierte Menschen zu vermeiden. Das aber wäre naheliegend, fokussieren wir doch zunehmend das subjektive Wohlgefühl. Ein zürnender Gott scheint hier hinderlich. Der Verf. beobachtet auch bei Christen, wie „die Ehrfurcht vor Gott, die Notwendigkeit des Gehorsams sowie die Dringlichkeit der Evangelisation als ‚Rettung vor dem Zorn‘“ (20f) zurückgeht.
Das Buch umfasst 19 Kapitel in vier Teilen: Der gesamtbiblische Befund, eine Auswahl theologiegeschichtlicher Stimmen, die dogmatische Einordnung sowie aus den drei Teilen gefolgerte Konsequenzen für Glauben und Verkündigung.
Die biblische Rede vom Zorn Gottes ist nach Halfmann keine menschlich interpretierte Beschreibung, sondern göttliche Offenbarung. Auch durch diese will Gott erkannt werden. Unsere Bilder von Zorn – maßlos, blindwütig, um-sich-schlagend – sollten wir nicht in biblische Beschreibungen hineinlegen. Biblische Autoren, so Halfmann, verwenden für den göttlich Zorn andere Begriffe als beispielsweise antike Schriften für den rachsüchtigen Zorn der Götterreligionen. Gott ist und bleibt der ganz andere. Das gilt auch für seine Liebe. Für den Theologen ist klar: „Ohne Zorn Gottes keine Liebe und Barmherzigkeit Gottes“ (35).
Dafür schaut er sich einige Bibelstellen an, die überwiegend gut gewählt sind. In wenigen einzelnen (z. B. Hiob) scheint mir mehr ein persönliches Empfinden als tatsächlicher Zorn Gottes vorzuliegen. Im Alten Testament entspringt Gottes Zorn seiner Liebe, die keine anderen Götter neben sich duldet. Auch seine Sehnsucht nach Gerechtigkeit lässt ihn zornig werden angesichts menschlichen Unrechts (vgl. Amos). Als Schöpfer, König und Richter dieser Welt wird er – gerecht und zu Recht – zornig über Missachtung seiner Person und Werte, was seinen Höhepunkt im Tag des Herrn findet (z. B. Jesaja, Joel). Gleichzeitig bleiben manche Handlungen Gottes für uns schlicht auch rätselhaft. Zeichen seines Zorns können die Aktivierung der Fremdvölker (Richterzeit), Naturkatastrophen und Plagen (Exodus) oder Krankheit/Tod sein. Jedoch begrenzt Gott seinen Zorn (Ps 30,6; Jes 54,8-10), sein Wesen ist Barmherzigkeit (Hes 18,23).
Im Neuen Testament untersucht der Theologe Bibelstellen aus den Evangelien, Paulus und der Offenbarung. Jesus gebrauche das Wort Zorn zwar nur einmal (Endzeitreden), aber seine Verkündigung (z. B. Gleichnisse) wie sein Handeln (z. B. gegen unbußfertige Städte) enthalten „zahlreiche Motive, die mit der Botschaft vom göttlichen Zorn verbunden sind“ (92). Paulus verwendet das Wort „Gnade“ öfter als alle anderen neutestamentliche Autoren. Dennoch ist „in seinem Denken weiterhin Raum für den Zorn Gottes“ (100), wie Halfmann aufzeigt.
Indem Halfmann die neutestamentlichen Stellen nach demselben Muster untersucht wie die des Alten Testaments, zeigt er auf: Es gibt keinen Unterschied zwischen einer Zeit bzw. einem Gott des Zorns (AT) und der Liebe (NT), wie oft angenommen. Diese Denkweise sei „fundamental unbiblisch“ (126). Gott selbst, die Propheten, Jesus und die Apostel haben alle dieselbe Botschaft: Der Mensch soll umkehren, um statt Gericht Gottes Heil zu erfahren.
Halfmann stellt gut verständlich prägende Stimmen der Kirchengeschichte dar. Seine Auswahl von griechischer Philosophie über Marcion, Laktanz und Thomas von Aquin über Luther bis zu Schleiermacher, Ritschl und Barth begründet er beispielhaft damit, dass ihre Ansätze positiv wie negativ „bis heute prägend“ (181) sind.
Wie bringen wir gesund und biblisch Gottes Liebe und seinen Zorn zusammen? Der Pastor ist überzeugt: Gottes leidenschaftliche und alles gebende Liebe kann seit Christus nur von dessen Leben und Sterben her verstanden werden. Da sei die Rede vom lieben Gott nicht nur irreführend, sondern unangemessen. Auch müssen wir in Gottes Liebe seine Heiligkeit und Gerechtigkeit integrieren. In Anlehnung an Wilfried Härle ist der Zorn Gottes Ausdruck seiner kämpferischen, echten und gemeinschaftssuchenden Liebe. Die Botschaft vom Zorn Gottes schwächt seine Liebe nicht ab, sie wird dadurch „vielmehr konkretisiert“ (201).
Ein Exkurs behandelt die Frage, ob Jesus am Kreuz den göttlichen Zorn besänftigte. Anhand der teils missverständlich interpretierten Satisfaktionslehre Anselm von Canterburys verdeutlicht der Verf.: Die „Genugtuung“ bezieht sich nicht auf den Vater, sondern auf die Versöhnung der Welt.
Halfmann fasst die Kernaussagen des bisher Erarbeiteten in einer 20-Punkte-Liste zusammen. Diese bietet zugleich eine Erklärung des Evangeliums. Einige Formulierungen eignen sich gut für die Verkündigung.
Bleibende Aufgabe dieser sei es, „die Botschaft vom Zorn Gottes christusgemäß“ weiterzugeben (221). Was das heißt und wie es gelingt, darum geht es im vierten Teil des Buches. Das Verhältnis von Wahrheit und Liebe taucht immer wieder auf. Es beinhaltet nicht die Frage „ob“, sondern „wie“ die Botschaft vom Zorn Gottes im Reden und Leben vorkommt. Der Verf. behandelt prägende Einflussfaktoren für das Gottesbild – Kindheit, Elternhaus, Gemeinde, Schule, persönliche Krisen – und betont die Notwendigkeit, sich am biblisch offenbarten Bild Gottes zu orientieren.
Wertvoll sind auch seine Ausführungen zur Ehrfurcht in Kapitel 17. Wer Gottes Liebe tief erfahren hat, in dem entsteht Ehrfurcht, die sich auch in Liebesgehorsam und Anbetung zeigt. Für die Verkündigung gilt das Vorbild von Jesus: in Liebe und Barmherzigkeit handeln und zugleich zur Umkehr aufrufen, angesichts des bevorstehenden Gerichts.
Kirche müsse wieder neu wagen, Gottes Wort auf aktuelle Ereignisse anzuwenden: also denkend und fragend die Möglichkeit auszusprechen, ob manches Weltgeschehen auch gerichtlicher Umkehrruf Gottes sein könnte. Halfmann nennt das den prophetischen Konjunktiv.
Halfmanns Buch ist gründlich recherchiert, biblisch fundiert und gut gegliedert. Ihm gelingt es, anspruchsvoll exegetisch wie systematisch-theologisch zu arbeiten und leicht verständlich zu bleiben. Im vierten Buchteil finden sich viele wertvolle Gedanken. Die letzten beiden Kapitel wirken auf mich an manchen Stellen jedoch etwas langatmig, teils wiederholend und mit kleinen Sprüngen versehen.
Angesichts seiner Biografie gibt der Autor im letzten Abschnitt des Buches – ein Exkurs – Hinweise zu einem hilfreichen Umgang mit einem angstmachenden Gottesbild.
Die Bibeltexte werden in der Regel nicht nur genannt, sondern überwiegend nach Elberfelder oder Hoffnung für Alle zitiert. Am Buchende finden sich ein zehnseitiges Literaturverzeichnis sowie das Fußnotenverzeichnis.
Ich halte das Werk des Autors nicht nur für lesenswert. Es ist ein wichtiger Beitrag zu einem biblisch fundierten Gottesverständnis und Glaubensleben. Es spricht nicht nur Theologen an, sondern auch Seelsorger und interessierte Christen, die ihre Sicht auf Gottes Liebe und Zorn vertiefen möchten.
Michael Schwantge, Gemeinschaftspastor der Ev. Stadtmission Oppenheim, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Instituts für Ethik und Werte Gießen