Historische Theologie

Christian Peters: Luthertum und Pietismus

Christian Peters: Luthertum und Pietismus. Die Kirche von Soest und die neue Frömmigkeit (1650–1750), Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen Neue Folge 80, Münster: Aschendorff, 2024, 972 S., Hardcover, € 69,–, ISBN 978-3-402-15147-1


Aus langjähriger intensiver Quellenarbeit ist ein opus magnum entstanden, das ein Beispiel dafür bietet, welche Entwicklung die Frömmigkeit in der lutherischen Kirche vom Ende des 17. bis zur Mitte des 18. Jh.s in einem eingegrenzten Bereich genommen hat. Es ist nicht nur ein für die regionale Kirchengeschichte wichtiges Werk, sondern kann gleichermaßen als Vorbild dienen, die oftmals hochkomplexe Frömmigkeitsgeschichte zwischen lutherischer Orthodoxie, Pietismus und beginnender Aufklärung dadurch überschaubarer zu machen, indem man sich auf eine Region begrenzt – ohne dabei freilich den Blick auf weitere Dimensionen zu verlieren.

Das Werk gliedert sich in drei große Abschnitte, denen der übliche Anhang mit Quellen und Registern beigefügt ist. Der erste Teil (13–177) ist eine zusammenhängende Beschreibung der Kirchengeschichte von Soest in dem im Buchtitel genannten Zeitraum. Als „Rückgrat“ der Erzählung („Zentralgestalt“, 11) dient der Soester Pfarrer Johann Nikolaus Sybel (1690–1759), von dessen Biographie ausgehend die „verschiedenen Spielarten des Pietismus“ (12) behandelt werden, die in Soest auftauchen. Dabei kommen aus der Historiographie des Pietismus Bekannte wie Johann Mercker (60–72 mit zahlreichen Editionen von Briefen in Teil 2) und Johann Christoph Nungesser (30–41) und unbekanntere Personen (Johann Gottfried Kopstadt) vor sowie die großen pietistischen Zentren Halle und Herrnhut. Streitbare Lutheraner wie der eher lokal wirksame Jost Wessel Rumpaeus (1676–1730) werden ausführlich – insbesondere in seinem Verhältnis zu dem Pietistengegner Johann Friedrich Mayer und Valentin Ernst Löscher – dargestellt (111–131, mit Briefen in Teil 2). Ebenso wird die beginnende Aufklärung Wolffscher Prägung geschildert, die – exemplarisch für die theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Entwicklung – zu einer Annäherung der alten Rivalen (Luthertum und Pietismus) gegenüber den neu aufgekommenen Ideen führte (126). Im zweiten Teil (179–748) werden zahlreiche Quellen ediert, auf denen der Bericht von Teil 1 fußt. Sie werden jeweils mit ausführlichen Biogrammen und Erklärungen kommentiert. Die Texte selbst werden in unterschiedlicher Weise präsentiert (vollständig, in Auszügen oder in Form von Zusammenfassungen). Ihre Fundorte werden gewissenhaft dokumentiert. Im ersten Teil wird in den Fußnoten jeweils auf die in Teil 2 vorgelegten Quellen verwiesen, so dass es sich empfiehlt, beide Teile synchron zu lesen. Der dritte Teil (751–902) ist eine alphabetisch nach den Autoren geordnete Bibliographie von 30 „lokal und regional handelnden Personen“ (749), die insgesamt 778 Titel enthält, darunter 671 Schriften der Personen selbst und 107 Dedikationen oder Gegenschriften. Auch in dieser Bibliographie finden sich die Biogramme der erwähnten Personen, soweit sie nicht schon in den beiden ersten Teilen vorkommen. Die in den Anmerkungen vorgenommenen Bezüge zu anderen Titeln der Bibliographie sind für die Zuordnung von großer Hilfe. Die Titelangaben selbst sind ausführlich, kürzen aber, wenn nötig und möglich, die üblichen ausufernden barocken Titel. Die allermeisten sind mit Hinweisen auf Bibliotheksstandorte oder digitale Nachweise versehen. Ergänzt wird diese Liste noch durch eine vollständige Bibliographie (mit denselben Zusatzangaben versehen) von weiteren gedruckten Quellen (Anhang, 4.1; 903–918). Hier hätte man sich (bei den angeführten Spenerwerken überprüft) vorstellen können, auch Neueditionen aufzuführen. Um die kommentierenden Anmerkungen in Teil 1 zu entlasten, hätte man durchgehend auf diese beiden Bibliographien (Teil 3 u. Anhang 4.1) verweisen können (was nur gelegentlich geschehen ist, z. B. Anm. 199), anstatt die genannten Titel mehrfach zu bibliographieren (z. B. 67 Anm. 196 mit Werken von Mercker und Barop). Ähnliches lässt sich auch zur Sekundärliteratur sagen, die im Verzeichnis Anhang 4.3 erneut genannt wird. Diese marginal kritischen Anmerkungen sollen aber nicht den Eindruck des opulent gestalteten Bandes eintrüben lassen, der mit zahlreichen Bildnissen versehen ist und zudem auf 48 Seiten (481–528) durch viele auf Hochglanz gedruckte Photographien über die im Band genannten Kirchen und ihrer Ausstattung einen nachdrücklichen Eindruck verschafft. Aber nicht nur für den lokal interessierten Leser bietet sich eine anregende Lektüre (etwa durch die Veröffentlichung einer von Sybel entworfenen „neuen Kirchenordnung“ für Soest, 467–480, 529–594, und einer „Soestischen Kirchen-Agende“, 595–748), sondern die Arbeit ist ein ausgesprochen wichtiger Baustein der ideengeschichtlich bedeutsamen Fragestellung des Verhältnisses von Luthertum, Pietismus und Aufklärung, die nicht ohne die Grundlage von lokal bestimmten Forschungsarbeiten auskommt. Für die Erforschung der Ausstrahlung wichtiger Zentren wie Halle und Herrnhut sind die regionalen, überregionalen und internationalen Auswirkungen schon immer wichtig. Die vorliegende Arbeit dient nun als Exempel für eine solche Untersuchung in einer überschaubaren Region, indem sie – häufig unbekannte und jedenfalls bislang unveröffentlichte – Quellen von beiden Seiten (Halle und Soest, 11) vorstellt. So werden beispielsweise in Halle virulente Themen (Testimonien für Theologiestudenten und Predigtamtskandidaten [Teilabdruck der preußischen Verordnung aus dem Jahr 1718, 273–276]; Waisenhaus und Armenfürsorge [91–96] und dergleichen mehr) in der konkreten Situation in Soest behandelt. Hinzu wird die Frage thematisiert, wie sich unterschiedliche Prägungen des Pietismus (z. B. radikalpietistische durch Johann Mercker) und ihre Übergänge (z. B. der Einfluss von Johann Konrad Dippel, 69, und der Widerstand dagegen, 228 u. ö.) in der Diskussion vor Ort zeigen. Auch das getrübte Verhältnis zwischen Halle und Herrnhut hat seine Auswirkungen auf die Soester Verhältnisse (162f). Mithin handelt es sich um ein Werk, das für die Pietismusforschung insgesamt von Bedeutung ist.


Dr. Klaus vom Orde, Halle (Saale)