Historische Theologie

Bernd Brandl: Heinrich Coerper

Bernd Brandl: Heinrich Coerper. Sein Leben und die Anfänge der Liebenzeller Mission, Interkulturalität & Religion/ Intercultural & Religious Studies 9, Berlin: LIT-Verlag, 2024, geb., XVI+632 S., € 44,90, ISBN 978-3-643-25134-3


Nachdem es bisher über den Liebenzeller Werkgründer Heinrich Coerper (1863–1936) nur einige erbauliche Erinnerungsschriften gab, hat der emeritierte Liebenzeller Kirchengeschichtler Bernd Brandl nun mit diesem Band erstmals eine mit Archivquellen belegte wissenschaftliche Darstellung von über 600 Seiten vorgelegt. Dabei wird deutlich, dass Heinrich Coerper eine schillernde Persönlichkeit mit visionärer Leitungsbegabung und seelsorgerlicher Kompetenz gewesen ist, der gleichzeitig aber auch kritisch zu beurteilende theologische und politische Positionen vertreten hat.

Brandl beginnt seine Untersuchung im ersten Kapitel (1–27) mit grundlegenden Bemerkungen zur biographischen Geschichtsschreibung und mit einer differenzierten Beleuchtung der bisher vorliegenden hagiographischen Biographien über Heinrich Coerper. Damit wird die dringende Notwendigkeit einer erstmaligen wissenschaftlichen Untersuchung Coerpers deutlich gemacht, an die sich ein Überblick über das vorhandene Quellenmaterial anschließt.

Die Darstellung beleuchtet zunächst in Kapitel 2 (29–50) die Herkunft Coerpers aus einer Pfarrersfamilie in Meisenheim in der Pfalz, die aufgrund der Nähe zu Frankreich tief patriotisch geprägt war. Kapitel 3 (51–91) beschreibt Coerpers Schulzeit und seine Jahre als Theologiestudent ab 1883, wo er vor allem durch Prof. Theodor Christlieb in Bonn in ein lebendiges persönliches Glaubensleben hineinfand. Die Kapitel 4 und 5 (93–165) erzählen daraufhin über Coerpers erste Berufserfahrungen als Dozent an der neugegründeten Evangelistenschule Johanneum in Bonn und als Stadtmissionar der freien Kapellengemeinde in Heidelberg. In diesen Jahren zwischen 1888–1894 wurde er auch zum Mitbegründer der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung (DCSV) und knüpfte vielfältige Kontakte in der deutschen Heiligungs- und Gemeinschaftsbewegung. Kapitel 6 (167–216) stellt dar, wie Coerper als Großstadtpfarrer in Essen (1894–1897) und als Diakonissenpfarrer in Straßburg (1897–1899) letztlich aufgrund seiner dezidierten Prägung durch die Heiligungsbewegung jeweils schon nach kurzer Zeit scheiterte. Kapitel 7 (217–286) berichtet daraufhin vom holprigen und angefochtenen Start des eigentlichen Lebenswerks Coerpers, dem Aufbau eines deutschen Zweigs der China-Inland-Mission, zunächst von 1899–1902 in Hamburg, sowie dann, in Kapitel 8 (287–352) dargestellt, in Liebenzell im Schwarzwald. Dabei waren nicht nur starke innerpietistische Gegnerschaften aus dem Raum des württembergischen Altpietismus auszuhalten, sondern auch mancherlei finanzielle, juristische und strukturelle Probleme zu lösen, was vor allem durch die Unterstützung einer vermögenden Mäzenin gelang (313–318). Kapitel 9 (353–416), in dem Coerper selbst weitgehend im Hintergrund bleibt, berichtet über die Ausweitung der Liebenzeller Missionsarbeit nach Ozeanien, Papua-Neuguinea und Japan in den turbulenten Übergangszeiten der deutschen Kolonialzeit und der beiden Weltkriege. Hier bleiben manche Fragen offen, weshalb eine tiefergehende Untersuchung als Forschungsdesiderat formuliert wird (416). In Kapitel 10 (417–480) wird beschrieben, wie Coerper der Liebenzeller Mission durch aktive Evangelisationsarbeit einen Unterstützerkreis eigener Gemeinschaften schuf, der 1910 schließlich als ddeutsche Vereinigung organisiert wurde. Zu dieser Zeit bezog Coerper in den Auseinandersetzungen um die Pfingstbewegung trotz vieler Anfeindungen von beiden Seiten eine neutrale Mittelstellung. Kapitel 11 (481–518) behandelt Coerpers politische Äußerungen in der Zeit des 1. Weltkriegs von 1914–1918. Damals erwies er sich als überzeugter kaisertreuer Patriot, dem es dennoch gelang die Verbundenheit zur englischen Zentrale der China-Inland-Mission zu bewahren. Kapitel 12 (519–564) erzählt schließlich über Coerpers späte Jahre. Zunächst wird aufgezeigt, wie er dem Verschwörungsmythos der Dolchstoßlegende anhing und Deutschlands Kriegs-Niederlage einer geheimen Allianz von Kommunismus, Judentum und Katholizismus anlastete. Schon bald aber arrangierte er sich mit der Weimarer Republik und würdigte in den 1920er Jahren die internationale Verflechtung der Missionsarbeit. Erst als sich die Machtergreifung Hitlers 1932/33 abzeichnete, setzte er Hoffnungen in den Nationalsozialismus und blieb blind für dessen wahres Wesen, bis ihn – kurz nach der Gründung eines eigenständigen Liebenzeller Gemeinschaftsverbands – ein Schlaganfall im Dezember 1933 traf. Daraufhin wurde er von seinen Aufgaben entbunden, bis er im Juli 1936 mit 73 Jahren starb.

In einem Epilog formuliert der Verfasser auf den Seiten 565–580 ein zusammenfassendes Fazit. Dabei macht er deutlich, dass Coerper als wichtiger und prägender Vertreter der deutschen Heiligungs-, Heilungs-, und Evangelisationsbewegung gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gelten kann. Insbesondere wird der feine Unterschied zwischen dem württembergischen Altpietismus und dem Neupietismus Liebenzeller Prägung deutlich herausgearbeitet. Dies macht unter anderem verständlich, warum Frauen bei Coerper eine nahezu gleichberechtigte Position haben konnten, und zwar sowohl in der formalen und informellen Leitung der Liebenzeller Mission als auch in der missionarischen Praxis im In- und Ausland.

Der Verfasser macht einleitend deutlich, dass ihm die Schwierigkeit sehr wohl bewusst ist, als ein dem Liebenzeller Werk eng verbundener Mitarbeiter eine kritisch-neutrale Darstellung des Werkgründers vorzulegen (26). Über weite Strecken gelingt ihm das durch dezente kritische Wertungen (vor allem in Bezug auf Coerpers politische Haltungen) recht gut. Nur ganz zum Schluss des Buches (vor allem im Schlusswort auf Seite 580) rutscht der Verfasser dann doch selbst in den Stil einer eher hagiographischen Lebensbeschreibung ab, die deutlich eine subjektive Begeisterung über das lebendige Glaubensvorbild Coerpers und dessen Heiligungstheologie durchscheinen lässt. Dies schmälert den objektiven Gesamtwert der Untersuchung allerdings nicht. Viele Informationen über Heinrich Coerper erfährt man in diesem Buch zum ersten Mal (z. B. 99). Damit schließen sich knapp 90 Jahre nach seinem Tod manche Lücken seines Biographie-Mosaiks. Zudem werden auch manche Widersprüche und Spannungen zwischen den bisherigen Coerper-Biographien endlich differenziert und argumentativ geklärt (z. B. 84ff, 142), Fehlinformationen korrigiert (493, 504) oder Wertungen revidiert (497).

Sehr hilfreich ist, dass alle Kapitel mit kurzen Zusammenfassungen der wichtigsten Erkenntnisse abgeschlossen werden, so dass trotz des voluminösen Umfangs des Buches auch ein schneller Überblick über den roten Faden der Darstellung möglich ist. Ein 14-seitiger Bildteil (ohne Seitenzahlen) vermittelt einige plastische Eindrücke. Insgesamt liegt hier eine beeindruckende und lesenswerte Biographie über einen bisher wissenschaftlich kaum wahrgenommenen Protagonisten des Neupietismus vor, dessen Lebenslauf gerade dadurch beeindruckt, dass er keine geradlinige Erfolgsgeschichte ist, sondern auch Umwege, Scheitern und Fehler beinhaltet.


Prof. Dr. Frank Lüdke, Professor für Kirchengeschichte an der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg