Veronika Albrecht-Birkner, u. a. (Hg.): Pietismus
Veronika Albrecht-Birkner / Wolfgang Breul / Joachim Jacob / Markus Matthias / Alexander Schunka / Christian Soboth (Hg.): Pietismus. Eine Anthologie von Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts, Leipzig: EVA, 2017, geb., 20 Abb., XVIII+714 S., € 64,–, ISBN 978-3-374-04545-7
Die Güte einer Anthologie bemisst sich nicht nur an der Auswahl der darin veröffentlichten Texte, sondern auch an deren Einführung und Kommentierung. In der vorliegenden Pietismus-Anthologie ist beides gelungen. Dafür ist dem Herausgebergremium aus Pietismus-Kennern zu danken, die als evangelische Theologen, Germanisten oder Historiker nicht nur unterschiedliche Fachdisziplinen vertreten, sondern auch die interdisziplinäre Perspektive zum Leitgedanken der Anthologie wählen.
Die rund 180 Quellenauszüge aus Texten des Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts sollen, so die Herausgeber einleitend, „die gestalterische Einwirkung pietistischer Theologie und Frömmigkeit auf viele andere Bereiche des sozialen und kulturellen Lebens“ (XIX) zeigen, wobei der Pietismus zugleich selbst „als Teil eines umfassenden kulturellen und sozialen Wandels nach dem Dreißigjährigen Krieg“ (XX) verstanden wird. Daher erwartet den Leser der Anthologie eine vielfältige Auswahl an Autoren und Autorinnen, Textgattungen und Themen, die ihre Begrenzung im Zeitraum (zwischen 1670 bis 1770 verfasste Quellen) und in der Konzentration auf deutschsprachige Texte findet. Zu den Autoren zählen neben Philipp Jakob Spener (mit mehreren Auszügen aus der pietistischen Programmschrift Pia Desideria) auch bisher fast nur Pietismus-Forschern bekannte Autoren, wie z. B. die Magd und Kindsmörderin Gertrude Magdalene Bremmel mit ihrem Lebenszeugnis (283–286). Zu den Textauszügen, die in 20 Kapiteln thematisch dargeboten werden, zählen an die größere Öffentlichkeit adressierte Schriften ebenso wie bisher nicht veröffentlichte Sitzungsprotokolle und private Dokumente wie Briefe und autobiographische Bekenntnisse. Die rund 650 Seiten Quellentexte zeigen den Pietismus als theologische Bewegung (mit Texten zu Kirchenkritik, Kirchen- und Gemeinschaftskonzepten, Frömmigkeitspraxis, Bibel und Hermeneutik, Prophetie, Geschichtsdeutung und Zukunftserwartung, Gotteserkenntnis und Theologie) und ebenso als sozial- und kulturgeschichtlich prägende Bewegung im Blick auf Pädagogik und Erziehung, Geschlechterrollen, Armen- und Waisenfürsorge, Politik und Obrigkeit, Wirtschaft, Kommunikation und Medien oder die Künste.
Geordnet wird diese anregende Vielfalt an Quellen dadurch, dass die 20 Kapitel dem gleichen Aufbau verpflichtet sind: Der für den Abschnitt verantwortliche Herausgeber führt auf einer Druckseite knapp ins Thema des Kapitels und die Quellentexte in ihrem Kontext ein und nennt einschlägige Forschungsliteratur. Dem folgen sechs bis zehn Quellenauszüge in chronologischer Anordnung mit je einer kurzen Hinführung (im Kleindruck). Die Quellen werden nach der ersten Druckauflage bzw. handschriftlichen Vorlage oder, sofern vorhanden, einer wissenschaftlichen Edition wiedergegeben. In Fußnoten werden Bibelstellen und Worterklärungen ergänzt, Pfeile weisen auf Querverbindungen zu Textauszügen in anderen Kapiteln hin, und spezifische Literaturhinweise zur Vertiefung beschließen den jeweiligen Quellenauszug. So stellt Wolfgang Breul in Kapitel 4 acht Quellen zu „Bibel und Hermeneutik“ (101–129) vor, von einem Auszug aus dem dritten Teil von Speners Pia Desideria (1675/76) über die Einleitung zum Spruch-Catechismus (1685) von Johann Wilhelm Petersen, einen Auszug aus August Hermann Franckes Einfältigem Unterricht (1694) und aus der Einleitung zur Berleburger Bibel (1726) bis zu Texten von Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (Vier und Dreyßig Homiliae, 1747), Johann Albrecht Bengel (Vorrede zu seiner Übersetzung des Neuen Testaments, 1753) und Friedrich Christoph Oetinger (Biblisches und emblematisches Wörterbuch, 1776). Die Quellenauswahl erschließt die Vielfalt des deutschsprachigen Pietismus, vom landeskirchlichen zum radikalen, vom Spenerschen zum württembergischen Pietismus.
Darüber hinaus gewährleistet auch ein umfangreicher Anhang die Orientierung: Hier werden die Quellen noch einmal, nun in chronologischer Reihenfolge, aufgeführt (651–674). Ein Verzeichnis der Quellenautoren (675–686) hilft, insbesondere unbekanntere Autoren, biographisch einzuordnen. Ein Abkürzungsverzeichnis (687f), Abbildungsverzeichnis (689–691), Personen- (693–700), Orts- (701–703) und Bibelstellenregister (704–714) tragen zur sehr guten Erschließung der Quellentexte bei. Dabei nennen die Register allerdings Kapitel und Quellennummer und nicht die Seitenzahl, was zunächst irritiert, da z. B. für die Bibelstelle Jer 1,6 nur auf Quellenauszug 5.3 verwiesen wird, der immerhin drei Seiten umfasst (138–141). Da die Bibelstellen aber in Fußnoten zu den Quellenauszügen vermerkt sind, findet der Leser nach kurzer Eingewöhnung schnell die gesuchte Textstelle, in diesem Fall in einer Bußschrift von Adelheid Sybille Schwartz.
Kritisch ist vielleicht zu fragen, warum nach den „klassischen“ pietistischen Themen in den ersten Kapiteln, darunter Kirchenkritik (1.), Kirchenkonzepte (2.), Frömmigkeitspraxis (3.) und Hermeneutik (4.), dem Thema „Gotteserkenntnis und Theologie“ (511–539) erst das 17. Kapitel gewidmet ist – nach Politik und Obrigkeit (13.), Wirtschaft (14.) oder Kommunikation und Medien (15.), zählte doch die Reform des Theologiestudiums zu den zentralen Punkten des frühen Pietismus. So erschließt sich die Reihenfolge der Kapitel nicht immer, während die Auswahl der behandelten Themen und Quellen überzeugt. Doch das ist eine marginale Anmerkung zu einer Anthologie, der man viele Leser wünscht. In Udo Sträters Vorwort kann die Rezensentin nur einstimmen: „Ich […] gehe davon aus, dass diese Anthologie nicht nur als Quellenbuch für Studierende und Lektüre für alle Interessierten große Dienste leisten wird, sondern auch der Forschung neue Impulse gibt“ (VI).
Prof. Dr. Ulrike Treusch, Professorin für Historische Theologie an der Freien Theologischen Hochschule Gießen
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