Historische Theologie

Harry Oelke, Wolfgang Kraus u. a. (Hg.), Martin Luthers „Judenschriften“

Harry Oelke, Wolfgang Kraus u. a. (Hg.), Martin Luthers „Judenschriften“. Die Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert, AKIZ.B 64, Göttingen: V&R, 2015 [2016], geb., 338 S., € 80,–; E-Book € 65,–, ISBN 978-3-525-55789-1ISBN 978-3-647-55789-2 (E-Book)

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Dies ist ein Buch von gleichbleibender Aktualität! Auch nach dem Reformationsjubiläum 2017 wird in der Öffentlichkeit immer wieder gerade nach diesem Lutherthema gefragt werden: Wie stellte sich Martin Luther zu den Juden, speziell in seinen Judenschriften? Bei der Behandlung dieses Inhalts in vielen populärwissenschaftlichen und breitenwirksamen Beiträgen wurde schon in den letzten Jahren ausreichend Porzellan zerschlagen – das weiß jeder, der die Medien beobachtet hat. So wurde sogar der Lutheraner Johann Sebastian Bach als Antisemit apostrophiert (vgl. Barbara Möller in Die Welt vom 25.6.2016 über die Ausstellung „Luther, Bach – und die Juden“ im Bachhaus Eisenach).

Der vorliegende Aufsatzband enthält gesammelte Beiträge, die auf einer Tagung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg vom 6.–7. Oktober 2014 präsentiert wurden. Als Zugabe gibt es einen Aufsatz von Martin Friedrich zum 19. Jh., während das Referat von Thomas Kaufmann „Luther und die Juden in antisemitischen Lutherflorilegien“ in ZThK 112 (2015), 192–228, veröffentlicht wurde.

Der Mitherausgeber Harry Oelke bündelt in seiner Einleitung Äußerungen zum Thema, die im Vorfeld der Reformationsfeierlichkeiten das öffentliche Gespräch bestimmten. Die kirchengeschichtliche Forschung sei inzwischen über das Thema zwar gut informiert, seine Rezeptionsgeschichte bedürfe angesichts der Fragestellungen der Antisemitismusforschung jedoch neuer Aufarbeitung (12f). Die Aufsätze sind in überwiegend historischer Reihenfolge abgedruckt (14): Vorangestellt sind zwei Beiträge zu Lutherausgaben und zur Lutherbiographik, dann folgen Aufsätze bis zum Kaiserreich und in einem weiteren Teil von dieser Epoche bis zur Weimarer Republik und den zwölf Jahren des Nationalsozialismus. Daran schließen sich zwei Abschnitte über die Zeit seit 1945 und zwei Schlussbetrachtungen an, wobei – besonders bei Aufsätzen zur gleichen Epoche – inhaltliche Überschneidungen ab und zu unvermeidlich sind.

Im ersten Beitrag „Luthers ,Judenschriften‘ im Spiegel der Editionen bis 1933“ (19–43) setzt sich Volker Leppin mit der Ansicht auseinander, Luthers judenkritische Spätschriften seien nach dem 16. Jh. nicht bekannt gewesen, weil sie nicht ediert worden seien. Leppin kommt zu dem Ergebnis (28), die Judenschriften seien nicht nur innerhalb (im 18. u. 19. Jh. allein innerhalb) der Werkausgaben zugänglich gewesen, sondern auch in Einzelausgaben. „Zu einem konkreten Anlass wurden Luthers Schmähschriften gegen die Juden herangezogen, um eine gegen diese gerichtete Aggression zu stärken bzw. motivierend zu unterstützen. Ab dem frühen 20. Jahrhundert hatte das Thema dann weiter Konjunktur, und mit ihm auch das editorische Bemühen“ (32f).

Anselm Schubert präsentiert im zweiten Aufsatz über „Die Rezeption von Luthers ,Judenschriften‘ im Spiegel der Biographik des 19. und 20. Jahrhunderts“ (45–68) als Resultat: „Der antisemitische Luther wurde nicht Gegenstand der Biographik, sondern blieb Objekt der politischen und weltanschaulichen Pamphletistik“ (59).

Martin Friedrich („,Luther und die Juden‘ in Preußen bis 1869“, 71–84) resümiert, dass die Judenschriften im 19. Jh. im Großen und Ganzen bei Befürwortern und Gegnern der gesellschaftlichen Judenemanzipation unbekannt gewesen seien (73). Sie seien immer wieder, aber höchst selten, außerhalb Preußens herangezogen worden, wenn man sie brauchte (77). Bei Hengstenberg findet sich die klassische Position, dass Luther in diesem Punkt nicht zu folgen sei, wie es die lutherische Kirche auch nie getan habe. Die Frage müsse vielmehr von der Heiligen Schrift aus beurteilt werden (79).

Hanns Christof Brennecke („Die Rezeption von Luthers ,Judenschriften‘ in Erweckungsbewegung und Konfessionalismus“, 85–105) zitiert nicht nur Hengstenberg, sondern auch Franz Delitzsch als Kritiker der Lutherschriften (98f). Dagegen seien judenmissionarische Bemühungen mit Luthers Schrift von 1523 begründet worden. Zur Entlastung des geschätzten Reformators habe man sogar eine Verfälschung seiner späten Schriften angenommen!

Jüdische und antisemitische Lutherlektüren im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik sind das Thema von Christian Wieses Untersuchung (107–142). Der Verfasser findet auch in jüdischen Quellen stark die Sicht Luthers als Vertreter von Toleranz und Emanzipation vertreten. Dagegen spielen Luthers Judenschriften bei den meisten jüdischen Autoren keine wesentliche Rolle (119). Gury Schneider-Ludorff zitiert in „;Luther und die Juden‘ in den theologischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit“ unter anderen Mathilde Ludendorff vom Tannenbergbund. Sie wirft 1928 der Kirche vor, sie fälsche die Reformation Luthers, wenn sie die Judenschriften verschweigt (151). Siegfried Hermle fasst den Befund zu „,Luther und die Juden‘ in der Bekennenden Kirche“ (161–190) folgendermaßen zusammen: „So bleibt festzuhalten, dass sich nahezu alle Autoren in ihren Ausführungen antijudaistischer und oft genug auch antisemitischer Stereotype bedienten; sie waren insoweit Kinder ihrer Zeit, als dass sie ganz selbstverständlich von „dem Juden“ redeten und staatliche Maßnahmen zum vorgeblich notwendigen „Schutz des Volkes“ nicht in Frage stellten“ (187).

Nicht mit Luther, sondern mit Texten von Fritsch, Treitschke und Chamberlain begründeten die Deutschen Christen ihre antisemitischen Ansichten, so das Fazit von Oliver Arnhold („,Luther und die Juden‘ bei den Deutschen Christen“, 191–212). Die Judenschriften seien bei den DC erst ab 1933 „entdeckt“ worden. „Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Rezeption von Luthers „Judenschriften“ bei den Deutschen Christen je zu ihrer Zeit dazu geeignet war, die Ausgrenzungs- und Verfolgungsmaßnahmen der Nationalsozialisten gegenüber den deutschen Juden sowie die kirchenpolitischen Anliegen der deutschchristlichen Bewegung zu legitimieren und zu unterstützen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen war sie gänzlich durch die nationalsozialistische Rasseideologie bestimmt und konnte unter ihrem verzerrten Blickwinkel Luthers Stellung zum Judentum nur fehldeuten.“ (209).

Nach 1945 findet man oft den apologetischen Versuch, Luther von der (Mit-)Schuld am Dritten Reich freizusprechen (Harry Oelke: „,Luther und die Juden‘ in der kirchengeschichtlichen Forschung nach 1945“, 215–233). Hans Asmussen „… unterstreicht, dass die Wurzeln des Nationalismus nicht zu Luther, sondern vielmehr zu Kant, zur Französischen Revolution und zu Marx führten. Luther habe die Obrigkeiten schärfer kritisiert als andere“ (220). 1961 kommt es auf dem 10. Deutschen Evangelischen Kirchentag zur Gründung der „Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen“ – eine wichtige Etappe! (223) Für den Prozess der „Historisierung und Differenzierung“ seit 1985 (226) werden Thomas Kaufmanns intensive Forschungen zum Thema wichtig: „Am Ende plädiert auch Kaufmann im Hinblick auf die Differenzen zwischen Früh- und Spätschrift für eine Kontinuität einer theologisch begründeten Ablehnung der Juden“ (227). „Ein Forschungskonsens besteht inzwischen auch weitgehend darin, dass Luthers Position annähernd mit dem bis dahin entwickelten christlichen Antijudaismus identisch war. Rassische Motive indes, wie diese seit etwa 1870 in Europa eine Rolle spielten, lagen jenseits des Verstehens- und Argumentationshorizonts Luthers“ (ebd.).

Die weiteren Aufsätze des Sammelbandes sollen hier nur angezeigt werden: Reiner Anselm: „,Luther und die Juden‘ in der systematischen und ethischen Debatte nach 1945“ (235–247); Stephen G. Burnett: „,Luther and the Jews‘ in Anglo-American Discussion“ (249–265); Lucia Scherzberg: „,Luther und die Juden‘“ in der katholisch-theologischen Wahrnehmung (269–288); Wolfgang Kraus: „,Luther und die Juden‘ in den kirchenpolitischen Stellungnahmen und Entwicklungen seit 1945“ (289–312).

Zum Abschluss fasst der Erlanger Kirchengeschichtler Berndt Hamm den Ertrag der Tagung zusammen (315–322). Luther sei zwar nicht für die Judenvernichtung des 3. Reichs verantwortlich zu machen, aber der christliche Antisemitismus, „… der im ausgehenden 19. Jahrhundert eine stark nationalistische und kulturkritische Einfärbung erhielt“, sei ohne seine kritische Position zu den Juden im Hintergrund deutscher Geistesgeschichte nicht denkbar (321). Johannes Heil, Rektor der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg begrüßt in seinem Schlussbeitrag (323–328) den Fortschritt, den die Tagung für die Lutherrezeption gebracht habe. Er sieht neue Impulse für interreligiöse Zusammenarbeit, die falsche Frontstellungen des 16. Jahrhunderts abgelöst haben: „An ihre Stelle sind Austausch, Akzeptanz und Ökumene getreten“ (327).

Vgl. auch http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5683

Pfarrer Dr. Jochen Eber, Margarethenkirche Steinen-Höllstein, Redakteur des Jahrbuchs Biblisch erneuerte Theologie