Historische Theologie

Thomas K. Kuhn / Veronika Albrecht-Birkner (Hg.): Zwischen Aufklärung und Moderne

Thomas K. Kuhn / Veronika Albrecht-Birkner (Hg.): Zwischen Aufklärung und Moderne. Erweckungsbewegungen als historiographische Herausforderung, Region – Kultur – Gesellschaft. Studien zur Kultur- und Sozialgeschichte des Christentums in Neuzeit und Moderne 5, Berlin: LIT Verlag, 2017, kt., 382 S., € 49,90, ISBN 978-3-643-13156-0 (brosch.), ISBN 978-3-643-13156-4 (PDF)

Download PDF

 


„Anders als in der internationalen Forschung fanden die christlichen Erweckungsbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts in der deutschsprachigen Historiographie in den letzten Jahrzehnten relativ wenig Aufmerksamkeit“ (9), konstatieren die Herausgeber, Thomas K. Kuhn und Veronika Albrecht-Birkner, in ihrem Vorwort (7–10). In der Tat greift der vorliegende Tagungs- und Aufsatzband ein eminentes Forschungsdesiderat auf und den beiden Herausgebern gebührt das Verdienst, sich eines Themengebiets angenommen zu haben, das in der Kirchengeschichtsforschung vernachlässigt wurde. Der vorliegende Band ist ein erstes Ergebnis der 2012 gegründeten Arbeitsgruppe „Erweckungsbewegungen“ sowie einer Tagung in Greifswald (2015), „die sich das Ziel gesetzt hatte, die Erforschung der international agierenden Erweckungsbewegungen sowohl zu bündeln als auch anzuregen“ (9).

Die sechzehn Beiträge sind thematisch zusammengestellt unter den Aspekten „Forschungsperspektiven“, „Internationale Bezüge“, „Geschichte, Gegenwart, Zukunft“, „Mission und Diakonie“ sowie „Träger und Medien von Frömmigkeit“. Bereits die Überschriften zeigen die Vielfalt, deuten aber auch an, dass es über das kurze Vorwort hinaus keine weitere Definition und Begrenzung des Themas „Erweckungsbewegungen“ gibt, sondern die einzelnen Beiträge diese Definition selbst geben und dabei vereinzelt auch vor das 19. Jahrhundert zurückgehen. Auch die Perspektive der „historiographischen Herausforderung“ wird von den Autoren unterschiedlich verstanden, sowohl als Überlegungen zu historiographischen Konzepten als auch als Herausforderung der Forschung, mithin als Forschungsdesiderate. Wünschenswert wäre hier eine Einführung zur Bündelung und Weiterführung der in den Beiträgen genannten Forschungsperspektiven gewesen. Festzuhalten bleibt aber, dass die sechzehn Beiträge fundiert die jeweils eigene Forschung und Perspektiven der weiteren Erforschung der Erweckungsbewegungen vorstellen und der vorliegende Tagungsband damit einen multiperspektivischen Zugang zu den internationalen Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts bietet.

So fragt Hartmut Lehmann nach dem „Platz der Erweckungsbewegung in der Geschichtsschreibung zur deutschen Geschichte“ (13–26) und thematisiert, was eine Historiographie der Erweckungsbewegungen berücksichtigen müsste, darunter die Sozialgeschichte, eine „Analyse der jeweiligen Zeitperspektive“ (24), den „Kommunikationszusammenhang“ (25) sowie das Verständnis von Erweckung als „Teil einer umfassenden internationalen Auseinandersetzung der Frommen mit den Folgen der rapiden Modernisierung von Staat und Gesellschaft“ und „als Teil der Auseinandersetzung zwischen Entchristianisierung und Rechristianisierung“ (26). Fred van Lieburg analysiert die „Verortung des niederländischen Réveil in der internationalen Erweckungsforschung“ (27–41) und weist nach, dass „auch der niederländische Réveil eine historiographische Erfindung in identitärem Interesse“ (37) ist. Er regt eine Erforschung der Erweckungsbewegungen im internationalen Rahmen an. Dem schließt sich Thomas Hahn-Bruckart an mit einem Plädoyer für „transfergeschichtliche Ansätze in der Erforschung von Erweckungsbewegungen“ (43–62) und für eine „stark auf transnationale Dynamiken gerichtete Perspektive“ (62). Einen anderen Akzent setzt der umfangreiche Beitrag von Veronika Albrecht-Birkner, die Forschungsstand und -perspektiven der „Gender Studies zu den Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts“ (63–100) vorstellt und Beispiele für noch zu leistende Gender Studies benennt (84–100).

Verbindet die Beiträge der Sektion „Forschungsperspektiven“ das Postulat der Internationalität, greift der zweite Themenbereich die „Internationalen Bezüge“ auf, worunter sowohl die transatlantischen Beziehungen als auch ein Blick auf die skandinavische Literatur fallen: Annette G. Aubert (103–117) sieht ein Desiderat in der Erforschung der akademisch-theologischen Netzwerke des 19. Jahrhunderts zwischen „American evangelical professors and their German pietistic counterparts“ (103f). Exemplarisch zeigt sie die Rezeption von Friedrich Tholucks Schriften in den USA, während Jan Stievermann (119–139) den Weg religiös-erwecklicher Gedanken von den Vereinigten Staaten nach Deutschland verfolgt am Beispiel des presbyterianischen Missionars David Brainerd (1718–1747). Joachim Schiedermair (141–156) betont, dass die Erweckungsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts bis heute identitätsbildend für Skandinavien seien, und demonstriert am isländischen Roman „Salka Valka“, wie die Erweckung als Teil des Säkularisierungsnarrativs aufgenommen wird.

Der dritte Teil („Geschichte, Gegenwart, Zukunft“) widmet sich dann dezidiert historiographischen Fragen. Thomas K. Kuhn (159–197) gibt am Beispiel des ‚frommen Basel‘ „Einblicke in eschatologische Diskurse des 19. Jahrhunderts“ (162) und eröffnet damit ein weites Forschungsfeld von chiliastischen und Reich-Gottes-Vorstellungen sowohl innerhalb der Erweckungsbewegungen als auch in ihrem Einfluss auf akademisch-theologische Diskurse. Jan Carsten Schnurr (199–216) identifiziert die erweckliche Diskursgemeinschaft, ihre Verflechtungen mit anderen Geistesströmungen sowie diachrone und synchrone Vergleichsperspektiven als „Themenfelder zum Geschichtsdenken der Erweckungsbewegung“ (199f), die weiterer Forschung bedürfen, wobei sein Beitrag zugleich einen Forschungsüberblick über die Historiographie der Erweckungsbewegung im Vormärz bietet. Ruth Albrecht fragt am Beispiel der Schriftstellerin Hedwig von Redern (mit Bibliographie ihrer Schriften!) nach der „historiographischen Funktion biographischer Literatur“ (217–251) und benennt die systematische Erforschung der (Auto-)Biographik der Erweckungsbewegungen als Desiderat.

In der Perspektive „Mission und Diakonie“ skizziert Michael Czolkoss die transnationalen Verflechtungen der Kaiserswerther Diakonie (255–280), Frank Lüdke die „transatlantischen Einflüsse auf den deutschen Neupietismus“ anhand der Bedeutung von Charles G. Finney für den Deutschen Gemeinschafts-Diakonieverband (281–305). Wie diese beiden Beiträge stellen auch die vier Beiträge des letzten Teils „Träger und Medien der Frömmigkeit“ konkrete Beispiele aus der Erweckungsforschung vor: Michael Kannenberg untersucht das Wochenblatt „Christen-Bote“ als „Medium erweckter Meinungsbildung“ (309–323) und lädt dazu ein, die periodische Presse stärker als Quelle einzubeziehen. Urszula Bończuk-Dawidziuk (325–340) stellt als Fallbeispiel die Erweckungsbewegung im Hirschberger Tal in Schlesien vor, Marcus Heydecke (341–359) den 1853 gegründeten „Verein für Reisepredigt“ als Teil der Siegerländer Gemeinschaftsbewegung. Klaus vom Orde beschließt den Tagungsband mit einem Beitrag zu Sixt Carl Kapff (1805–1879) als „Vermittler zwischen württembergischer Landeskirche, schwäbischem Pietismus und der Evangelischen Allianz“ (361–374).

Ungeachtet der oben geäußerten Kritik ist der Tagungsband durchweg lesenswert und zur Lektüre empfohlen. Es ist den Herausgebern und der Arbeitsgruppe „Erweckungsbewegungen“ zu wünschen, dass durch diese vielfältigen Beiträge die systematische Erforschung der internationalen Erweckungsbewegungen angeregt und intensiviert wird und es nicht bei dieser Publikation bleibt, sondern eines Tages sogar eine Überblicksdarstellung „Erweckungsbewegungen“ erscheinen wird.

Prof. Dr. Ulrike Treusch, Professorin für Historische Theologie an der Freien Theologischen Hochschule Gießen