Holger Zaunstöck / Brigitte Klosterberg / Christian Soboth / Benjamin Marschke (Hg.): Hallesches Waisenhaus und Berliner Hof
Holger Zaunstöck / Brigitte Klosterberg / Christian Soboth / Benjamin Marschke (Hg.): Hallesches Waisenhaus und Berliner Hof. Beiträge zum Verhältnis von Pietismus und Preußen, Hallesche Forschungen 48, Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen, 2017, kt., XVI+242 S., € 44,–, ISBN 978-3-447-10961-1
„Es ist ein Gemeinplatz, dass der preußische Staat und der hallische Pietismus im 18. Jahrhundert einander tiefgreifend beeinflusst haben, so dass die Geschichte Preußens zwischen ca. 1690 und 1740 nicht ohne die Geschichte des hallischen Pietismus und umgekehrt verstanden und diskutiert werden kann“ (IX). Für dieses bereits gut erforschte Verhältnis von Preußen und hallischem Pietismus will der vorliegende Tagungsband „ein nuancenreicheres Bild der wechselseitigen Beziehungen“ (IX) erarbeiten, was, soviel sei vorweg gesagt, gelungen ist.
Der Aufsatzband wendet sich damit an Leser, die bereits Kenntnisse der Francke-Forschung und brandenburg-preußischer Geschichte haben. Denn die dreizehn Beiträge modifizieren das Stereotyp vom Zusammenwirken von preußischem Hof und hallischem Pietismus. Die Autoren sind entweder bereits einschlägig für ihre Forschungen zum Thema bekannt oder stellen hier Ergebnisse gerade abgeschlossener Forschungsprojekte vor. So führen die Herausgeber zunächst auch in die bereits geleistete Forschung, vor allem durch die Franckeschen Stiftungen und das Interdisziplinäre Zentrum für Pietismusforschung (IZP), ein (IX–XVI). Zu den Forschungsaktivitäten zählt die gemeinsame Tagung von Stiftungen und IZP im Januar 2013, deren Beiträge im vorliegenden Tagungsband versammelt sind.
In vier thematischen Sektionen, „Berufungen und Institutionen“ (1–54), „Netzwerkbildung und politisches Handeln“ (55–122), „Theologie und Politik“ (123–178) und „Traditionsbildung und Rezeption“ (179–234), wird das Verhältnis von preußischem Hof und hallischem Pietismus neu ausgelotet. Gleich der erste Beitrag postuliert eine „neue Sicht auf August Hermann Franckes Berufung und sein erstes Jahr in Halle 1691/92“ (3–17). Entgegen der üblichen Darstellung, dass Francke bewusst zur Förderung einer preußischen Reformuniversität nach Halle berufen wurde, arbeitet Marianne Taatz-Jacobi überzeugend heraus: „Francke als Professor der Theologie passte kaum in das Konzept einer zwar interkonfessionell offenen, binnenkonfessionell allerdings möglichst traditionell ausgerichteten lutherischen theologischen Fakultät“ (11). Taatz-Jacobi schließt daraus: „Das Narrativ, […] die Etablierung Franckes und des Pietismus seien die wesentlichen Ziele der Universitätsgründung gewesen, gehört demzufolge in den Bereich der Francke- und Reformuniversität-Hagiographie“ (17). Ebenfalls Einblick in die Beziehungen zwischen Francke und dem Berliner Hof bietet Claudia Drese (19–35), die Franckes Bemühungen untersucht, Johann Daniel Herrnschmidt als seinen Nachfolger nach Halle zu berufen. Anhand dieses Beispiels erhellt Drese die komplexe Kommunikation zwischen den Vertretern des hallischen Pietismus und dem Berliner Hof: „August Hermann Francke erscheint zwar als eine Art Fixpunkt, an dem die Kommunikation oft zusammenlief und von dem neue Impulse ausgingen, aber er war nicht der Kopf einer Kommunikationspyramide“ (35). Antje Schloms beschließt die Sektion „Berufungen und Institutionen“ mit ihrem Beitrag zur Waisenhausgründung in Züllichau 1719 (37–54), die nicht zuletzt vom König unterstützt wurde, weil die Franckeschen Anstalten als Modell und Vorbild für Züllichau dienten.
Die Polarität zwischen Berliner Hof einerseits, Francke und den hallischen Pietisten andererseits wird in der zweiten Sektion erweitert zur Netzwerkforschung. So untersucht Matthias Müller die „Beziehungen zum Hof und zur Regierung innerhalb des Briefwechsels Spener-Francke“ (56–79) und zeigt, dass Francke in Berlin unter den Hofadligen ein Netz von Unterstützern hatte, seine Einflussnahme über diese Vermittler aber begrenzt war. Diesen Gedanken führt der Beitrag von Hans-Jürgen Schrader weiter, der nach dem „Interesse des Berliner Hofs am Pietismus“ fragt (81–101) und dieses als vorrangig religions- und konfessionspolitisch bestimmt. Das Interesse des Hofs galt dem Pietismus als einer „mehr oder minder dezidiert antidogmatischen, konfessionsirenischen Frömmigkeitsrichtung“ (84), die „als Erzieher fromm-fleißiger Untertanen und als Bundesgenossen gegen den orthodoxen Konfessionalismus“ (101) gefördert wurde. Frank Göse (103–122) zeigt exemplarisch den pietistischen Einfluss auf adlige Netzwerke in Brandenburg-Preußen um 1700 und fordert zu historischer Netzwerkforschung im Blick auf die Adelslandschaften auf.
Unter dem Leitthema „Theologie und Politik“ untersucht Terence Mclntosh (125–136) Franckes strikte Ansichten zum Ausschluss von Gemeindegliedern vom Abendmahl, die möglicherweise zu einer „verschärften Kirchenzucht nach 1713 in Preußen beigetragen haben“ (136). Dass die Aufklärungsforschung Impulse für die Pietismus-Forschung geben kann, beweist der Beitrag von Jürgen Overhoff (137–152), der anhand der Causa Christian Wolff das Toleranzverständnis des preußischen Königshauses analysiert. Peter James Yoder (153–166) fragt danach, ob Franckes Theologie „die voranschreitende Militarisierung Brandenburg–Preußens durch den Berliner Hof unterstützt haben könnte“ (154), und stellt die These auf: „Bewusst oder unbewusst benutzte Francke seine Bekehrungstheologie, der er eine tiefe geistliche Bedeutung gab, um preußische Soldaten zur Treue gegenüber ihrem König zu ermahnen“ (163). Malte van Spankeren (167–178) zeigt anhand der Schrift „Der fromme Soldat“ von J. D. Herrnschmidt, wie „ein vom hallischen Pietismus geprägtes Frömmigkeits- und Glaubensverständnis“ (176) popularisiert wurde.
In der vierten Sektion „Traditionsbildung und Rezeption“ fragen schließlich drei Fallstudien danach, wie das tradierte Bild vom Verhältnis von Preußen und Pietismus entstand. Christoph Schmitt-Maaß (181–201) analysiert Leichen- und Huldigungspredigten anlässlich des Thronwechsels im Jahr 1713 und stellt ein „beredtes Schweigen“ (199) in Halle angesichts des Herrscherwechsels fest. Andreas Pečar (203–213) skizziert, wie der preußische König Friedrich II. das Verhältnis seines Vaters zum hallischen Pietismus als Mittel der Dynastiegeschichte und Selbstinszenierung nutzte. Für Friedrich II. war der hallische Pietismus ein „Beleg für die preußische Toleranz“ (211) und die „‚Sekte strenger Lutheraner‘ mit Francke an der Spitze“ war „ihm ein Beleg dafür, dass sein Vater Friedrich Wilhelm I. ein leicht zu manipulierender Herrscher gewesen sei“ (213). Tim Petersen (215–234) zeigt abschließend, wie noch der berühmte Ökonom des 19. Jahrhunderts, Wilhelm Roscher, von Francke geprägt war. Personen- (235–239) und Ortsregister (241f) beschließen den Band.
Wie beabsichtigt nuancieren die Beiträge das Verhältnis von Preußen und Halle. Dazu tragen auch der interdisziplinäre Zugang und die Integration von Impulsen aus der Aufklärungs- und Netzwerkforschung bei. Der theologische Leser wünscht sich gelegentlich eine stärkere Betonung theologischer Aspekte, die sich v. a. im Teil „Theologie und Politik“ finden. Doch die Beiträge erfüllen, was die Herausgeber beabsichtigten, nämlich Themen aufzugreifen, „die aktuelle Fragen und Ansätze der interdisziplinären Preußen- und der ebenfalls interdisziplinären Pietismusforschung bündeln und aufeinander beziehen“ (XII).
Prof. Dr. Ulrike Treusch, Professorin für Historische Theologie an der Freien Theologischen Hochschule Gießen