Andrea Strübind / Klaas-Dieter Voß (Hg.): Märtyrerbücher und ihre Bedeutung für konfessionelle Identität und Spiritualität in der Frühen Neuzeit
Andrea Strübind / Klaas-Dieter Voß (Hg.): Märtyrerbücher und ihre Bedeutung für konfessionelle Identität und Spiritualität in der Frühen Neuzeit. Interkonfessionelle und interdisziplinäre Beiträge zur Erforschung einer Buchgattung, Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 109, Tübingen: Mohr Siebeck, 2019, Ln., VI+258 S., € 89,–, ISBN 978-3-16-156538-0
Verfolgung und Martyrium von Christen sind leider auch heute noch aktuell und Organisationen wie „Open Doors“ tragen dazu bei, dass Berichte von verfolgten Christen heute bekannt werden. Die historischen Märtyrerberichte z. B. des 16. und 17. Jahrhunderts sind dagegen wenig bekannt, und auch in der historischen Forschung widmeten sich erst in den letzten Jahren einzelne Monographien den Märtyrerbüchern dieser Zeit. Daher ist es erfreulich, dass Andrea Strübind, Universitätsprofessorin für Historische Theologie in Oldenburg, und Klaas-Dieter Voß, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek in Emden, bereits 2014 zum Symposium „Die Wahrheit ist untödlich. Märtyrerbücher und ihre Bedeutung für konfessionelle Identität und Spiritualität in der Frühen Neuzeit“ einluden. Mit dem vorliegenden Aufsatzband werden die Ergebnisse der internationalen und inter-disziplinären Tagung veröffentlicht, die sich durch die thematische Zuspitzung einerseits auf die Gattung der Märtyrerbücher, andererseits auf deren Bedeutung für die konfessionelle Identität auszeichnet. In dieser thematischen Konzentration bieten die zwölf deutschen und englischen Beiträge von Autorinnen und Autoren unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen einen aspektreichen Einblick in Gattung und Inhalte der Märtyrerbücher des 16. und 17. Jahrhunderts.
Ab Mitte des 16. Jahrhunderts entstanden in den reformatorischen Denominationen Martyrologien, zu deren frühesten die Märtyrerbücher des Lutheraners Ludwig Rabus, des Reformierten Jean Crespin, des Niederländers Adriaen van Haemstede und des Engländers John Foxe zählten. Folgerichtig sind diese Werke auch Gegen-stand im vorliegenden Band, dessen erste beide Beiträge sich der Kultur und dem Begriff von Martyrium widmen. Vier weitere Beiträge setzen sich grundlegend mit den erwähnten Märtyrerbüchern auseinander, während die letzten sechs Beiträge spezifische Aspekte der Darstellung in den Blick nehmen.
Der Einleitung der Herausgeber (1–11) folgend, fragt Peter Burschel (13–26) kulturanthropologisch danach, wie kollektive Leiderfahrungen gedeutet werden und darin identitätsstiftend wirken. Er sieht in der Frühen Neuzeit drei christliche Haltungen, die bewusste Annahme von Leiden („Leidsamkeit“), die Verachtung der vergänglichen Welt in der Zuversicht auf das ewige Leben und die Deutung von Leiden, v. a. im Jesuitendrama, als Zeugnis und Einladung zum christlichen Glauben. Martin Ohst (27–45) untersucht die Begriffsgeschichte von Martyrium von der Alten Kirche bis zur Reformation und konstatiert bei Martin Luther den Versuch, die Verbindung von Martyrium und Verdienstgedanken zu lösen und den Martyriums-begriff ethisch zu transformieren. Aus der historischen Entwicklung heraus regt er an: „Wäre es nicht ein sinnvolles Unterfangen, den Märtyrerbegriff mit all seinen nun einmal gegebenen Konnotationen […] anheimzustellen und sich auf die Suche nach einem spezifisch evangelischen Begriff […] zu begeben […]?“ (45).
Auch Martin Treu (47–59) fragt nach dem Märtyrerverständnis im lutherischen Protestantismus und stellt in seiner Analyse der achtbändigen Martyrologie von Ludwig Rabus (1523–1592) fest, dass es einen „explizit dargestellten Begriff des Märtyrers“ (58) bei Rabus noch nicht gab. Dessen monumentales Werk wirkte v. a. indirekt in den Martyrologien von John Foxe und Jean Crespin (1520–1572) nach. Von letzterem erschien 1554 in Genf die Schrift „Le Livre des Martyrs“, die Jeremiah Martin (61–74) untersucht. Martin zeigt, dass sich in Crespins Martyrologie nicht nur calvinistische Theologie spiegelt, sondern dass sein „Livre“ auch durch die Identifizierung der Märtyrer mit der wahren Kirche Christi für die Hugenotten identitätsstiftend wurde.
Das erste Märtyrerbuch in niederländischer Sprache, die „Historie der Martelaren“ von Adriaen van Haemstede (ca. 1521–1562), erschien 1559 in Emden, wo vermutlich auch das erste täuferische Märtyrerbuch („Het Offer des Heeren“, 1562/63) publiziert wurde, wie Klaas-Dieter Voß (75–98) in seiner akribischen Studie des Entstehungskontexts erarbeitet. Die Anglistin Gabriele Müller-Oberhäuser (99–125) fragt nach der Bedeutung des „Book of Martyrs“ von John Foxe (1515–1587) für das religiöse und nationale Selbstverständnis Englands. Ausgehend von der Text- und Druckgeschichte hebt sie besonders „das Zusammenwirken von Text und Illustrationen“ (111) hervor, mit dem Foxe’s Werk durch die Jahrhunderte hindurch eine breite Leserschicht ansprach.
Susanne Lachenicht (127–134) untersucht die Bedeutung des Martyriums für die Hugenotten in Frankreich zwischen 1685 bis 1750 und arbeitet heraus, dass Märtyrerzeugnisse die Hugenotten nicht nur in ihrem Selbstverständnis bestärkten, wahre Kirche Christi zu sein, sondern im 17. Jahrhundert auch zum in der Diaspora identitätsstiftenden Selbstverständnis führte, wahre französische Patrioten zu sein.
Das Entstehen eines kollektiven Selbstverständnisses, Märtyrer zu sein, untersucht Albert de Lange (135–156) überlieferungsgeschichtlich an den Waldensern in Kalabrien: So wurde 1561 in einem Nürnberger Flugblatt erstmals die Tötung von 88 protestantischen Christen in Montalto (Kalabrien) beschrieben. In der deutsch-sprachigen Rezeption wurden die Getöteten zu lutherischen Märtyrern und erst in der weiteren Rezeption, u. a. bei John Foxe, wurde richtiggestellt, dass es sich um Waldenser handelte. Das Massaker von Montalto begründete dann „den Mythos der Waldenser, der sie zum ‚Märtyrervolk‘ machte“ (156). Wie das Bildprogramm im „Märtyrerspiegel“ (2. Aufl. 1685) von Thieleman Jansz van Braght die im 17. Jahrhundert bereits gesellschaftlich etablierten Mennoniten an ihre Herkunft und damit Identität als Märtyrer erinnern sollte, zeigt die Kunsthistorikerin Stephanie S. Dickey (157–184). Aus der Perspektive der Geschlechterforschung analysiert Nicole Grochowina (185–201) die Darstellung von täuferischen Märtyrerinnen u. a. im täuferischen Märtyrerbuch „Het Offer des Heeren“ (1562/63), und stellt fest, dass die Beschreibungen weiblichen Martyriums weniger umfangreich als die männlichen Martyriums ausfällt, was sie als Fortschreibung frühneuzeitlicher Geschlechterverhältnisse deutet. Exemplarisch untersucht Raingard Esser (203–221) katholische Märtyrerbücher in den Niederlanden, die erst ab 1587 erschienen, deutlich später als protestantische Märtyrerbücher, was sie auch darin bedingt sieht, dass die spanisch-habsburgischen Machthaber erst spät Märtyrerbücher als konfessionelle Propaganda förderten.
Ausgehend vom 1679 erschienenen quäkerischen Märtyrerbuch „Spiegel voor der Stad van Embden“ führt Walter Schulz (223–258) in die Verfolgung der Quäker in Emden ab den 1670er Jahren ein und beschließt damit den Band mit einem Beitrag, der auch dem Tagungsort Rechnung trägt. Ein Register und ein Autorenverzeichnis finden sich leider nicht; doch das ist nur ein kleiner Kritikpunkt in einem ansonsten gelungenen Band mit wissenschaftlichen Beiträgen, die gute Einblicke zum Thema aus Geschichte und Theologie, Kulturwissenschaften und Philologien bieten.
Dr. Ulrike Treusch, Professorin für Historische Theologie an der Freien Theologi-schen Hochschule Gießen