Philipp Jakob Spener, Briefe aus der Berliner Zeit 1691–1705, Bd. 1: 1691–1693, Bd. 2: 1694–1696
Udo Sträter in Zusammenarbeit mit Marcus Heydecke (Hg.): Philipp Jakob Spener, Briefe aus der Berliner Zeit 1691–1705. Band 1: 1691–1693, Tübingen: Mohr Siebeck, 2025, geb., Ln., LIV+1024 S., € 269,–, ISBN 978-3-16-1614417-7
Udo Sträter in Zusammenarbeit mit Klaus vom Orde (Hg.): Philipp Jakob Spener, Briefe aus der Berliner Zeit 1691–1705. Band 2: 1694–1696, Tübingen: Mohr Siebeck, 2025, XLI+972 S., geb., Ln., 254,– €, ISBN 978-3-16-164483-2
„Wie man mich aufs wenigste unter die des pietismi verdächtige“ – die Bewegung des Pietismus des 17. Jahrhunderts ist aufs Engste mit Person und Werk Philipp Jakob Speners (1635–1705) verbunden, und doch trifft er diese Aussage in einem Brief aus dem Jahr 1692, der nun im ersten Band seiner Briefe aus der Berliner Zeit (1691–1705) abgedruckt ist. Spener benennt damit das zentrale Thema seiner Korrespondenz dieser Jahre: die Streitigkeiten um den Pietismus und die Personen, die zu dieser Bewegung gezählt werden bzw. von denen sich die „Pietisten“ distanzieren.
Mit den beiden kurz aufeinanderfolgend erschienenen ersten Bänden der auf fünf Bände angelegten Edition der Briefe Speners aus seiner Zeit als Propst an St. Nikolai in Berlin schreitet die kritische Edition seiner Korrespondenz rasch voran. Nach dem Abschluss der Briefbände aus der Frankfurter und Dresdener Zeit folgen nun die Briefe ab seinem Amtswechsel im Juni 1691 vom Oberhofprediger am kursächsischen Hof in Dresden zum Berliner Propst im reformiert regierten Kurfürstentum Brandenburg bis zu seinem Tod 1705.
Der erste Band bietet 189 Briefe aus den drei Jahren 1691 bis 1693 (und einen einzelnen Brief als Nachtrag zum Spener-Francke-Briefwechsel) ohne die separat edierten Briefe an August Hermann Francke und seinen Schwiegersohn Adam Rechenberg, die für ein Gesamtbild dieser Jahre parallel herangezogen werden müssten. Wie in der Editionsreihe üblich, sind die Briefe seiner Korrespondenten, zum größten Teil nicht erhalten, nicht abgedruckt, auch die erwähnten Gutachten nicht, dafür aber die Briefe Speners in bewährter Qualität der bisherigen Briefedition. Der Edition gehen im ersten Band eine thematische Einführung sowie ausführliche editorische Vorbemerkungen (zu allen fünf Berliner Briefbänden) voran, in denen detailliert die Editionsprinzipien sowie Überlieferungsträger, textkritischer Apparat und Grundsätze der Kommentierung erläutert werden. Die Edition folgt den bereits erschienenen Briefbänden: Die Briefe sind in chronologischer Reihenfolge mit Adressat, Ort und Datum der Abfassung sowie Überlieferung abgedruckt; eine inhaltliche Zusammenfassung geht dem Abdruck jedes Briefs voran, der in den Fußnoten sorgfältig kommentiert wird. Zusätzlich erschließt ein Personen-, Orts- und Bibelstellen-Register (997–1021) sowie der „Schlüssel zu den zeitgenössischen Sammlungen von Ph. J. Speners Bedenken und Briefen“ (1023f.) die Briefe. Besonders wichtig ist aber bei einem Band, der die letzte Lebensphase Speners zum Thema hat und damit optimalerweise die Kenntnis seiner gesamten vorherigen Korrespondenz voraussetzt, die inhaltliche Einleitung des Editors Martin Heydecke (XIII–XXIV). Denn ein Sachregister bieten die Einzelbände nicht, was in der Reihe üblich ist, aber doch vom Leser gelegentlich vermisst wird. Zu erwarten ist, dass wie beim Schlussband der Frankfurter Briefe mit dem abschließenden, fünften Band der Berliner Briefedition ein Gesamtsachregister erscheinen wird.
Daher sollen beide Briefbände vor allem inhaltlich skizziert werden. So beschäftigt sich Spener in Berlin im Jahr 1691 zunächst noch mit seinem Umzug von Dresden nach Berlin und den Gründen für diesen Wechsel, doch äußert er sich in den ersten drei Jahren in Berlin selbstverständlich auch zu theologischen Fragen des Pietismus und den Pietismus-Streitigkeiten, praktisch-theologisch zur Gemeindearbeit sowie persönlich zu politischen und familiären Ereignissen. Zu letzteren zählen z. B. der Tod seines Sohnes Wilhelm Ludwig im Jahr 1692 (Brief Nr. 57) oder Bemerkungen zum pfälzischen Erbfolgekrieg. Viele Briefe zeigen seine Pflege der Kontakte zu Hof und Adel, z. B. zum sächsischen Hof oder zum reformierten Kurfürsten Friedrich III. von Braunschweig. Im Blick auf die Gemeinde-Arbeit schreibt Spener zu Fragen der Beichte, der Konfirmation und dem Katechismus-Examen, das er in Berlin neu einführt, sowie zur Diskussion um den Taufexorzismus (den er trotz lutherischer Tradition nicht für theologisch notwendig hält) und das Abendmahl, wobei er für ein gemeinde-öffentliches (nicht privates) Abendmahl plädiert und vor Separation warnt.
Am bedeutendsten sind aber die theologischen Lehrfragen, die Spener anspricht, führen sie ihn doch nolens volens in den Streit um den Pietismus hinein. Vorsichtig abwägend äußert Spener sich zu Chiliasmus, Enthusiasmus und Perfektionismus. Mit dem Wolfenbütteler Pietisten-Edikt vom 9. März 1692, das u. a. die schriftliche Kommunikation mit allen verbietet, die des Enthusiasmus, Chiliasmus, Pietismus oder Quäkerismus verdächtigt werden, sieht sich Spener gezwungen, Stellung zu beziehen. In seinem Brief an Herzog Rudolf August von Braunschweig-Lüneburg vom Mai 1692 (Nr. 80) schildert er die „pietistischen“ Unruhen in Leipzig im Jahr 1689 und wehrt sich gegen den Vorwurf, dass der Pietismus eine „neue Secte“ sei. „Es geschieht aber durch solchen mißbrauch, daß auch andere obrigkeiten, wie verlautet, diesem praejudicio folgen, daß viele unschuldige, denen einmal von andern der name der pietisten beygelegt worden, als eben damit vor verdammt beschweret, […] daher viele tausend seuffzen GOtt liebender seelen ausgetrucket werden.“ (Nr. 80, Z. 46–50). In diesem Brief fällt die eingangs zitierte Bemerkung („wie man mich aufs wenigste unter die des pietismi verdächtige“; ebd., Z. 68f.), mit der Spener sich und seine Korrespondenzpartner zu schützen und aus den Auseinandersetzungen um den Pietismus noch herauszuhalten versucht. Doch schon im Dezember desselben Jahres positioniert sich Spener klar in der „causa pietismi“ und schreibt an einen unbekannten Amtsbruder (Nr. 121 vom 28. Dez. 1692), dass er eine „unpartheyische“ Betrachtung der Bewegung des Pietismus nicht nur in Halle, sondern auch in Sachsen verlange, und zu seiner Vorrede zu Seckendorffs „Bericht und Erinnerung“ stehe, in der er „die gantze Historie erzehlet habe“ (Nr. 57; Z. 172).
Die Verteidigung des Pietismus und der Person August Hermann Franckes prägt Speners Korrespondenz der Jahre 1694 bis 1696. Insgesamt 212 Briefe aus diesen Jahren sind im zweiten Band ediert. Thematisch treten in ihnen die Auseinandersetzungen um den Pietismus und damit verbunden Angriffe auf Speners Person und Verkündigung in den Vordergrund, wie Klaus vom Orde einleitend (XII–XX) festhält: „Zweifellos liegen die thematischen Schwerpunkte von Speners Korrespondenz der Jahre 1694 bis 1696 in der Verteidigung der pietistischen Bewegung und der Ausbreitung und Konsolidierung seiner Vorstellung zur Verbesserung der Kirche“ (XIX–XX). Streitpunkte sind die Rechtgläubigkeit der pietistischen Bewegung, aber auch Fragen der Abgrenzung, z. B. zum Chiliasmus und zu Personen wie dem Ehepaar Petersen (Nr. 93) oder gegenüber der Enthusiastin Adelheid Sybilla Schwartz (Nr. 51). Davon zeugen Speners Briefe aus dieser Zeit ebenso wie die, hier nicht edierten, zahlreichen Streitschriften Speners und Gegenschriften, v. a. der sächsischen Theologen aus Leipzig und Wittenberg. Wie persönlich Spener diese Angriffe empfand, zeigt ein für ihn ungewöhnlich scharfer Ton. In einem Brief an Gräfin Christina von Stolberg-Gedern vom Juni 1695 rügt er die Wittenberger Gegner scharf, dass „solche Theologi sich in sothaner schrifft [der]maßen selbs prostituiret haben“ (Nr. 86, Z. 36). Auch Anfragen an seine lutherische Lehre im reformiert regierten Brandenburg nimmt er wahr (Nr. 184).
Daneben spricht er in seinen Briefen auch Themen früherer Jahre wieder an: Die Gründung der Universität in Halle ist für ihn Anlass pietistischer Personalpolitik, nicht nur bei Stellenbesetzungen in Halle, sondern auch an der Universität Gießen und bei Berufung von Geistlichen in höhere Kirchenämter. Zu den privaten Themen gehören der Tod seines Sohnes, des jungen Theologen Wilhelm Ludwig Spener, und die Trauer darüber (Nr. 158; 162; 174). Zu den wiederkehrenden Themen zählen auch die seelsorgerlichen und praktisch-theologischen Ausführungen zur Einzelbeichte (Nr. 188), zur Zulassung zum Abendmahl (Nr. 110) sowie zu Katechetik und den collegia pietatis (Nr. 61). Hier kommt Speners lebenslanges Bemühen um eine Erneuerung der Christenheit zum Ausdruck. Spener versucht, den jungen Menschen die Katechismus-Übungen möglichst „anmuthig und angenehm zu machen“ (Nr. 61, Z. 24), und entfaltet in einem Brief an einen unbekannten Geistlichen aus dem Jahr 1694 seine katechetischen Überlegungen: „Daher habe ich von den examinandis niemal gefordert, daß sie etwas weiter als den kleinen catechismum Lutheri auswendig lernen dörffen, wolten sie aber mehr in die gedächtnis fassen, habe ich sie bloß auff die sprüche der bibel gewiesen […]. In den examinibus […] habe ich doch immer gesehen, daß auch, der es nicht getroffen, nicht beschimpffet würde“ (Nr. 61, Z. 30–40). Auch noch 1694 befürwortet Spener collegia pietatis als „mittel der verbesserung“ (ebd., Z. 119), sah deren Einrichtung in Dresden und Berlin aber für nicht nötig an: „Wie ich dann die eigentlich also genannte collegia pietatis nur bey solchen gemeinden rathsam achte, in denen bereits ein mehrer eiffer zu GOttes wort sich hervor thut“ (ebd., Z. 123–125). Speners „Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirchen“ (Pia Desideria, 1675) bleibt auch in seinen Briefen der 1690er Jahre klar erkennbar; in den Mitteln setzt er hier wieder stärker auf den Katechismus-Unterricht und die Anleitung eines frommen Predigers.
Zwischen diesen großen theologischen Themen erheitern manche Aussagen Speners (die gleichwohl kulturgeschichtlich bedeutsam sind) den Leser heutiger Zeit, so seine Ausführungen zum Tragen von Perücken (Nr. 181), was er weder als verboten ansieht noch selbst praktiziert, zum Schminken (Nr. 210), das er ablehnt, oder zu Kleiderfragen bei Adligen (Nr. 86).
Die in den beiden neu erschienenen Bänden kritisch edierten Briefe Speners aus den Jahren 1691 bis 1696 bieten einen tiefen Einblick in das, was den Theologen und Geistlichen in Berlin bewegt hat, und werden am besten zusammen mit seinen (Streit-)Schriften dieser Jahre wahrgenommen. Den Herausgebern und Editoren der beiden Bände sei gedankt für die mühevolle Arbeit, insbesondere in der sorgfältigen Erschließung und Kommentierung der Briefe. Damit verbindet sich die Hoffnung, dass die drei noch ausstehenden Briefbände für die Jahre 1697 bis 1705 bald erscheinen.
Dr. Ulrike Treusch, Professorin für Historische Theologie an der Freien Theologischen Hochschule Gießen