Jacob Thiessen (Hg.): Gleichgeschlechtliche Anziehung
Jacob Thiessen (Hg.): Gleichgeschlechtliche Anziehung. Biologische, geistesgeschichtliche, biblisch-exegetische und seelsorgerliche Aspekte, Bad Windsbach: Logos Editions, 2024, Pb., 110 S., € 7,90, ISBN 978-3-945818-42-8
Vor dem Einstieg in das Büchlein seien zwei Blicke in das Umfeld vorangestellt.
Zuerst der Blick auf die deutsche und die meisten europäischen Gesellschaften. Da lässt sich feststellen, dass sexuelle Vielfalt mehr und mehr anerkannt und dann auch legalisiert wurde. Die jährlichen Demonstrationen am Christopher Street Day zeigen jedoch, dass die Gesellschaft noch lange nicht befriedet ist.
Kirchlich gesehen herrschte aufgrund der – vordergründig verstandenen – eindeutigen biblischen Quellenlage über lange Zeiträume hinweg fast ausnahmslos ein klares, eindeutiges Nein zur Homoerotik. Diese Tradition hat weiterhin ihre Fürsprecher. So sagte der bremische Pastor Olaf Latzel plakativ, dass Homosexualität „etwas Teuflisches“ sei. Andererseits schreibt der Ethiker Alexander Maßmann im Gefolge neuer exegetischer Erkenntnisse (vgl. zusammenfassend Stefan Scholz, „Homosexualität (NT)“, in: WiBiLex, https://bibelwissenschaft.de/stichwort/46910), dass das Christentum „mit seiner traditionellen Repression der Homosexualität […] Schuld auf sich geladen“ habe (Evangelisch kontrovers. Aktuelle Streitfragen aus ethischer Sicht, Leipzig: EVA, 2025, 54). Nach teils heftigen Diskussionen innerhalb der Landes- und Freikirchen sind homoerotische Beziehungen zumindest geduldet und anerkannt. Die ‚Ehe für alle‘ wird größtenteils nicht nur gesegnet, sondern auch als Traugottesdienst gefeiert.
Nun zu dem schmalen Büchlein mit seinen vier Beiträgen. Es geht zurück auf einen Studientag zum Thema Homoerotik in zwei Schweizer Gemeinden.
Siegfried Scherer richtet seinen Fokus primär auf biologisch-naturwissenschaftliche Aspekte. Er nennt jedoch sage und schreibe 15 psychologische, psychosoziale und soziologische Begriffe, die in der Diskussion eine Rolle spielen. Wichtiger aber ist die Zahl 14. Denn Scherer nennt neben der Genetik 13 Faktoren, die die menschliche Sexualität konstituieren (34). Allein wegen dieses sehr informativen und ausgewogenen Beitrages lohnt sich das Büchlein!
Harald Seubert verfolgt in seinem kurzen Beitrag (keine zehn Seiten) ausgewählte Perspektiven der griechischen und römischen Antike zur Homoerotik. Diese kontrastiert er eingangs m. E. zu grob mit wenigen neutestamentlichen Passagen (nur vier Verse).
Jacob Thiessen beginnt mit der ‚Knabenliebe‘ in der Antike und kommt dann zur biblischen Tradition, besonders im Neuen Testament (Röm 1,26f; 1Kor 6,9f; 1Tim 1,9f). Diesen Teil sehe ich nicht stringent und konsequent durchdacht. Sehr zu loben ist jedoch der erste Absatz seines Vorwortes mit dem fundamentalen Satz, „dass die Identität des Menschen nicht primär in der sexuellen Orientierung, sondern in seiner Beziehung zu Gott begründet ist“ (9).
Der Lebensberater und Seelsorger Rolf Rietmann schildert protokollartig einen konkreten „Fall“, versieht seinen Bericht jedoch mit weiterreichenden allgemeinen Informationen. So schreibt er mit Verweis auf eine große amerikanische Studie, dass wir wissenschaftlich nicht wissen, was eine gleichgeschlechtliche Anziehung letztlich ist (96). Selbst der deutsche Schwulen- und Lesbenverband LSVD wehrt sich gegen einseitige monokausale Ursachenzuschreibungen.
Mein kurzes Gesamtresümee: ein ausgesprochen preiswertes und sehr informatives Büchlein (mit immens vielen Literaturangaben), das man gerne liest, auch wenn man – hie und da oder gar insgesamt – anderer Meinung ist.
Pfarrer i. R. Dr. Gerhard Maier, Neuffen